Selbstheilung durch Mikrokapseln im Lack
Mikrokapseln im Lack bieten ein vielfältiges Anwendungspotential

Selbstheilende Oberflächen klingen nach Science-Fiction, doch sie sind real. Fraunhofer-Wissenschaftler aus der Polymerforschung geben Einblicke zu sogenannten Aktivsubstanzen und ihrer Wirkungsweise.
Ein kleines Missgeschick genügt: Es muss einem beim Tanken nur im falschen Moment die Zapfpistole aus der Hand gleiten und schon ist der Lack verkratzt und der Ärger groß. Wäre es nicht schön, wenn Kratzer ganz von alleine ausheilten – ohne Termin in der Autowerkstatt oder Scherereien mit der Versicherung? Genau das könnte in Zukunft der Fall sein.
Möglich machen das sogenannte Mikrokapseln. Sie sind in den Lack eingearbeitet und enthalten eine Aktivsubstanz. Wird der Lack beschädigt, platzen die Kapseln auf, die Aktivsubstanz tritt aus und verrichtet ihre Arbeit, verhindert zum Beispiel, dass sich der Kratzer ausbreitet. Wie das funktioniert, woraus die Kapseln bestehen, wie sie in den Lack kommen und wozu sie sonst noch nützlich sein können, verraten Alexandra Latnikova vom Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP in Potsdam sowie Ivica Kolarić und Marc Entenmann vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA im Interview.

mo: Woraus bestehen diese Mikrokapseln?
Latnikova: Ganz allgemein bestehen die Kapseln aus einem Kern- und einem Wandmaterial. Das Kernmaterial ist meist eine Aktivsubstanz, die später freigesetzt wird. Auf selbstheilende Oberflächen bezogen könnten das Korrosionsinhibitoren, Schmieröle, Kleberkomponenten oder Kombinationen aus diesen drei Aktivsubstanzen sein. Das Wandmaterial kann aus vernetzten oder unvernetzten Polymeren, aber auch aus anorganischem Siliziumoder Titandioxid und deren Kombinationen bestehen.
mo: Wie gelingt es, das Kernmaterial vom Wandmaterial zu umhüllen?
Latnikova: Es beginnt mit einer Emulsion, also einem trüben Gemisch zweier Flüssigkeiten, die sich eigentlich nicht mischen lassen.
Entenmann: Der Knackpunkt sind die zwei Phasen einer Emulsion. So kann das Material für den Kern in der einen und das Material für die Hülle in der anderen Phase enthalten sein. An der Phasengrenze wächst dann unter geeigneten Bedingungen die Hülle.
Latnikova: Damit am Ende alle Tröpfchen von einer Hülle umgeben sind, braucht es eine geeignete Verkapselungstechnik. Führend ist die sogenannte Melaminharztechnologie, die zum Beispiel bei der Herstellung von Duftstoffen zum Einsatz kommt. Bei ihr ist das Melaminharz in Wasser gelöst, fängt an zu polymerisieren, sammelt sich an der Tröpfchenoberfläche und fällt dort aus.

mo: Wie werden die Mikrokapseln in Beschichtungen integriert?
Kolarić: Genau das ist die Crux: Einerseits möchte man Kapseln, die sich im richtigen Moment öffnen. Andererseits sollen sie bei der Verarbeitung möglichst robust sein, also nicht aufplatzen.
mo: Wie verhindert man, dass die Mikrokapseln beim Mischen zerstört werden?
Kolarić: Eine schonende Verarbeitung ist wichtig, die Schergeschwindigkeit beim Dispergieren muss vergleichsweise klein gehalten werden. Allerdings ist ein Prozess umso wirtschaftlicher, je schneller er ist. Ein Lack, der Mikrokapseln enthält, ist also immer verhältnismäßig teuer.
Latnikova: Aber dafür gibt es einen Mehrwert, etwa dadurch, dass man eine besonders umweltfreundliche und langlebige Oberfläche erhält, für die der Kunde bereit ist, mehr zu zahlen. Oder auch dadurch, dass man zum Beispiel weniger Komponenten verbraucht und weniger Energie bei der Verarbeitung aufwenden muss.
mo: Wie gelingt es, die Kapseln in der Beschichtung gleichmäßig zu verteilen?
Latnikowa: Die Dichte und Größe von Mikrokapseln sowie deren Oberflächeneigenschaften müssen stimmen. Beispielsweise müssen die Kapseln negativ geladen sein, um mit einer wasserbasierten Farbe kompatibel zu sein. Zu dichte und zu große Kapseln könnten zu schnell sedimentieren. Aber auch zu kleine Kapseln lassen sich manchmal nicht so gut dispergieren.
Entenmann: Wichtig beim Homogenisieren ist auch, dass die Partikel von dem Lösemittel benetzt, also nicht von einer Lufthülle umgeben sind und somit Auftrieb haben. In diesem Fall hat man dann ungewollt an der Oberfläche eine Art Lotuseffekt. Andererseits setzen sich die Kapseln unten ab, wenn sie groß sind, der Lack dünnflüssig ist und zu lange zum Abbinden braucht.
mo: Wie werden die Kapseln aktiviert?
Kolarić: Ganz salopp: Die Kapseln müssen sich öffnen. Wenn jemand versehentlich mit dem Autoschlüssel einen Kratzer in den Lack macht, zerstört er damit Mikrokapseln und die Selbstheilung beginnt.
Latnikova: Manchmal ist es aber auch gar nicht gewünscht, dass die Kapseln aufplatzen – beim Korrosionsschutz zum Beispiel. Da setzt man eher auf die Permeabilität der Kapselwand. Die ist ja abhängig von den Umgebungsbedingungen, vom pH-Wert etwa. Ist ein bestimmter Zustand erreicht, werden die Kapseln durchlässiger und sondern ihren Wirkstoff ab. Dadurch kann man erhebliche Mengen an Korrosionsschutzmittel sparen und die Lebensdauer von Beschichtungen verlängern.
Entenmann: Die NASA nutzt zum Beispiel Mikrokapseln, die den pH-Indikator Phenolphthalein enthalten und bei alkalischen Umweltbedingungen durchlässig werden. Phenolphthalein ist bei einem pH-Wert zwischen null und 8,2 farblos, bei höheren Werten färbt es sich rosa. So wurden Korrosionsvorgänge zum Beispiel am Material des Spaceshuttles sichtbar gemacht, die mit bloßem Auge sonst nicht erkennbar gewesen wären. Das erleichterte den Kontrolleuren die Arbeit ungemein.

mo: Nimmt der Reibungswiderstand einer Oberfläche zu, wenn der Lack Mikrokapseln enthält?
Entenmann: Nein, die Kunst besteht genau darin, dass die Mikrokapseln genauso wie Pigmente und Additive keine solchen Auswirkungen auf eine Oberfläche haben dürfen. Und abgesehen davon kann eine bestimmte Oberflächenstruktur den Reibungswiderstand sogar noch verringern – wie bei der Haifischhaut. Es ist bisher allerdings noch niemandem gelungen, diesen Effekt für die Oberflächentechnik effektiv industriell nutzbar zu machen. Das wäre ein ganz neuer zusätzlicher Anwendungsfall für Mikrokapseln.
mo: Wenn Korrosionsschäden durch selbstheilende Beschichtungen verhindert werden, sind dann Brückeneinstürze wie der von Genua im August 2018 in Zukunft unwahrscheinlicher?
Entenmann: Brücken müssen routinemäßig überprüft und bestimmte Verschleißteile regelmäßig erneuert werden. Wenn diese Verschleißteile nun Beschichtungen mit Mikrokapseln enthielten, ließen sich solche Intervalle möglicherweise verlängern. Trotzdem könnte es weiterhin passieren, dass Schäden unentdeckt bleiben und sich im Extremfall verschiedene ungünstige Faktoren chaotisch überlagern, bis es zur Katastrophe kommt. Da helfen wahrscheinlich eher Sensoren, die Korrosion erkennen und melden.
Kolarić: Die Königsdisziplin wäre eine Kombination aus Mikrokapseln und Sensorik. Sensoren also, die dazu führen, dass Mikrokapseln ihren Wirkstoff ausschütten, wenn ein bestimmter, vorher festgelegter Punkt erreicht ist. Korrosion kann man zwar nicht vermeiden, aber man kann lernen sie zu managen und mehr oder weniger automatisiert zu überwachen. Aber Mikrokapseln machen mehr denkbar als nur Korrosionsschutz und Lackkratzer, die von selbst verheilen. Selbstheilende Leiterbahnen zum Beispiel.
Entenmann: Denkbar sind auch Mikrokapseln, die antimikrobielle Stoffe oder UV-Schutzmittel enthalten. Im Moment ist es noch so, dass die UV-Schutzwirkung einer Oberfläche recht schnell verfliegt. Solche Oberflächen wären also deutlich langlebiger, wenn das UV-Schutzmittel in Kapseln enthalten wäre und nur abgegeben wird, wenn man es tatsächlich braucht. Bei den Bioziden haben sich die Kapseln schon bewährt und führen dazu, dass der Wirkstoff nicht mehr so unkontrolliert austritt und dann nicht nur Weintrauben vor Schädlingen schützt, sondern im Boden versickert und dort das Mikrobiom zerstört. Mikrokapseln haben also das Zeug, in Zukunft noch völlig neue Märkte zu erschließen.
mo: Welche zum Beispiel?
Kolarić: Medizintechnik, Luft- und Raumfahrtechnik, Life Science, aber auch Luxusgüter und Sportartikel sind gute Einstiegsmärkte, weil man dort recht hohe Preise abrufen kann. Langfristig wird auch der Automobilsektor ein wichtiger Markt sein. Dafür ist allerdings noch viel Entwicklungsarbeit nötig, weil die Anforderungen an funktionale Oberflächen in der Automobilindustrie am höchsten sind.
Fraunhofer‐Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA
www.ipa.fraunhofer.de

