„Das ist Planwirtschaft.“
Zwischen Regulierungswut und Realitätsverlust: Wie das neue „BREF“ die Branche belastet
Ein Gespräch mit Dr. Malte Zimmer über die Neuregelung des BREF, Bürokratie, realitätsferne Regulierung und die Gefahren für die Zukunftsfähigkeit des Industriestandorts Europa.
Unser Gesprächspartner

Dr. Malte-Matthias Zimmer ist seit Juli 2017 Ressortleiter für Umwelt- und Chemikalienpolitik des ZVO. Er ist zuständig für die strategische Ausrichtung und Interessenvertretung der Branche in umwelt- und chemiekalienrechtlichen Belangen und koordiniert die Zusammenarbeit unter Verbandsmitgliedern, mit anderen Verbänden und mit Behörden.
Darüber hinaus ist er zentraler Ansprechpartner für Fragen zu Umwelt- und Chemikalienpolitik. Außerdem vertritt er den ZVO im europäischen Verband CETS. Dr. Zimmer ist Chemiker und war selbst Geschäftsführer in der Oberflächenbranche
mo: Herr Dr. Zimmer, Sie waren vor Kurzem bei einem Treffen beim Umweltbundesamt in Dessau zum Thema BREF, wie ordnen Sie das Thema grundsätzlich ein?
Zimmer: Das ist eine schwere Aufgabe – ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, wo ich anfangen soll. Machen wir’s mal einfach: Ursprünglich war das BREF – also das „Best Available Techniques Reference Document“ – dafür gedacht, Hinweise für technische Lösungen zu geben. Also: Wie kann man Emissionen wie ChromVI in der Luft oder Cyanid im Wasser kontrollieren? Die BREFs dienten als Orientierung für Genehmigungsbehörden. Aber mit der Neufassung der Industrieemissionsrichtlinie – 2024 – hat sich das grundlegend geändert. Jetzt geht es nicht mehr nur um Emissionen, sondern auch um den Input. Insbesondere geht es nun auch darum, was eingesetzt wird, wie effizient der Prozess ist und wer nach Behördensicht der Beste ist – und an dem sollen sich alle anderen orientieren. Das klingt nach Fortschritt. Aber was da passiert, wirkt eher wie eine schleichende Umstellung hin zu einer Art
Planwirtschaft.
mo: Was heißt das konkret für die Praxis der Unternehmen?
Zimmer: Die gesamte Betrachtung hat sich verschoben. Es geht nicht mehr nur um die Endemission, sondern um den kompletten betrieblichen Ablauf – was setze ich ein, wie häufig, wie energieintensiv ist der Prozess, wie viel Wasser wird gebraucht – und das alles soll möglichst mit dem besten Betrieb in Europa verglichen werden. Da wird eine Idealsituation zum Maßstab gemacht, ohne Rücksicht auf das, was tatsächlich auch unter absolut idealen Rahmenbedingungen zu leisten wäre – und ohne Rücksicht darauf, dass Parameter auch gegenläufig sein können. Das führt zu absurden Anforderungen und lässt die realistischen Möglichkeiten produzierender Betriebe wenig beachtet.
mo: Können Sie dafür Beispiele nennen?
Zimmer: Klar. Nehmen Sie zum Beispiel konkret das Thema Messwerte. In den neuen Entwürfen stehen Werte, die es nicht nur an kaum einem Standort gibt – sie sind zum Teil noch nicht einmal physikalisch überhaupt messbar. Oder: Es gibt Werte, für deren Messung keine europäische Norm existiert. Das bedeutet, ich vergleiche einen Wert, für den in jedem Land unterschiedliche Normen existieren. Trotzdem werden diese Werte als verbindlich aufgenommen. Problematisch ist außerdem, dass Messintervalle willkürlich verkürzt werden sollen – zum Beispiel auf drei Monate, obwohl bisher jährliche oder seltenere Messungen als sinnvoll erachtet wurden. Das ist nicht nur teuer für die Betriebe, es ist auch ganz faktisch heute und auch in näherer Zukunft nicht durchführbar, weil es dafür weder genügend akkreditierte Labore noch in genügender Menge ausreichend qualifiziertes Personal gibt.
mo: Und wie geht man dann mit den erhobenen Daten um?
Zimmer: Das ist der nächste Knackpunkt. Die Datenbasis ist dramatisch schwach – und dennoch wird mit ihr gearbeitet, als sei sie belastbar. Es werden Daten aus ganz Europa gesammelt, ohne jede Harmonisierung. Beispiel Abwasser: In Deutschland messen wir direkt nach der Behandlung – ungefiltert, unvermischt. In anderen Ländern wird am Mischpunkt mit Toiletten- und Küchenspülwasser gemessen – dort ist alles verdünnt. Das Ergebnis: niedrigere Werte. Aber beides wird in eine Tabelle geschrieben, ohne zu berücksichtigen, wie diese Werte zustande kamen. Und dann wird daraus ein Grenzwert gemacht, der überall gelten soll. Das bedeutet, wer unter günstigen Bedingungen messen darf, kann gegenüber faktisch saubereren Betrieben im Vorteil sein – und könnte am Ende sogar noch als Vorbild-Betrieb dargestellt werden. Die IED (Industrieemissionenrichtlinie) verlangt eine Kategorisierung in Unternehmen, die verglichen werden können. Das wird hier ignoriert.
mo: Das heißt, Äpfel und Birnen werden verglichen?
Zimmer: Das ist grundsätzlich richtig, auch wenn bezüglich der beschriebenen Vorhaben in Bezug auf die Messwerte Äpfel und Birnen noch vergleichsweise viele Gemeinsamkeiten haben. Und es wird schlimmer. So werden in vielen Betrieben Analysen gemacht, die mehr Parameter messen als notwendig – zum Teil aus Bequemlichkeit oder aus historischen Gründen. Diese „überzähligen“ Daten werden aber ebenfalls eingespeist und bilden am Ende „relevante Emissionen“, obwohl der Stoff aktiv im Prozess gar nicht verwendet wurde. Das heißt, ein Betrieb, der unnötig misst, kann versehentlich und unentdeckt die strengsten Zielwerte liefern.
mo: Und was passiert dann?
Zimmer: Dann heißt es: Seht her, das geht doch – der eine Betrieb hat’s geschafft. Dass dieser Wert gar nicht aktiv angestrebt wurde, sondern ein Nebenprodukt einer unspezifischen Analyse ist, interessiert zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr. Der Wert steht im Papier, also muss er zugrunde gelegt werden. Punkt.
Statistik als Farce: Was die Daten wirklich aussagen
mo: All das wird also nicht kontrolliert, gegengeprüft oder moderiert?
Zimmer: Nein. Die Fragebögen sind bei vielen Themen falsch strukturiert, teilweise mit Freitextfeldern versehen, in denen Unternehmen alles Mögliche eintragen können. Es gibt keine klaren Vorgaben, keine Begleitung, keine Erklärung. Wenn ein Student im ersten Semester so etwas abgeben würde, würde er ohne jeden Zweifel durchfallen.
mo: Haben Sie versucht, Einfluss auf diese Entwicklungen zu nehmen?
Zimmer: Ja, das hat der ZVO versucht. Mein Kollege Herr Mäule hat bei der Bearbeitung der vorhergehenden BREF Version mit enormem Aufwand in Einzelgesprächen mit Betrieben die Daten erhoben. Jeder Fragebogen und Betrieb brauchte dazu – begleitet – ein bis zwei Tage. Aber das war BREF, wie es früher war. Jetzt kommen noch die ganzen Inputdaten dazu – das ist unmöglich zu stemmen. Wir reden eigentlich über Hunderte Betriebe mit jeweils hunderten Datenfeldern und zu allem Überfluss Interpretationsspielräumen ohne Ende. Das ist keine valide Erhebung – das ist Chaos.
mo: Also fehlt auch eine qualifizierte Unterstützung vor Ort?
Zimmer: Es geht viel weiter, es ist ein systemisches Versagen. Die Autoren des BREF vom Joint Research Centre der EU – mittlerweile EU-Brite genannt – hatten bis vor kurzem noch nie eine Galvanik von innen gesehen. Die haben ihre Vorstellungen von Effizienz rein auf dem Papier entwickelt – ohne einen Hauch von Prozessverständnis. Erst seit letztem Jahr durften sie sich mal ein paar Betriebe in Finnland, Österreich und Deutschland ansehen. Aber es ist mehr als offensichtlich, dass das weder fehlendes Know-how, noch fehlende Praxiserfahrungen kompensieren kann.
mo: Und was passiert, wenn die geforderten Werte überschritten werden?
Zimmer: Ob diese Werte tatsächlich belastbar genug sind, um in der Realität einen Prozess zu charakterisieren oder nicht, ist im Nachhinein ohne Relevanz – sie schlagen in Genehmigungsverfahren voll durch. Mit dramatischen Folgen: Wer nicht den „besten“ gemeldeten Wert erreicht – ganz gleich wie absurd dessen Entstehungsgeschichte ist – muss erklären, warum nicht. Und das gilt für jeden einzelnen, nicht eingehaltenen Wert, auch bei gegenläufigen Parametern. Und natürlich ist es mit Erklären nicht getan, sondern es werden Gutachten nötig. Das kostet viel Zeit und Geld.
Selbstzweck Bürokratie: Kontrolle wichtiger als Wirkung
mo: Hat all das wenigstens positive Effekte für die Umwelt, fördert das Gesundheit und Nachhaltigkeit?
Zimmer: Nein, denn es gibt keine Ergebniskontrolle. Niemand prüft, ob sich dank dieses Bürokratiemonsters die Luftqualität verbessert hat, ob das Grundwasser sauberer ist oder ob weniger Menschen krank werden. Es gibt nur Ziele auf dem Papier – niemand prüft, ob sie messbar oder überhaupt erreichbar sind. Das folgt dem Prinzip Fire-and-Forget – die Vorschriften suchen sich ihre Opfer und Regulierung wird zum Selbstzweck.
mo: Gibt es Tendenzen, eine vernünftigere Gegenbewegung zu etablieren?
Zimmer: Leider nein. Das ist ja das Tragische. Je mehr reguliert wird, desto mehr Stellen entstehen in den Behörden, desto größer wird der Apparat. Und der Apparat braucht neue Aufgaben, um sich zu erhalten. Man könnte sagen zwei Schreibtische gebären einen dritten – das ist in der EU heute leider zunehmend Realität. Die oft am grünen Tisch aus mangelndem Wissen vermuteten Probleme werden nicht gelöst, sie werden immer intensiver verwaltet.
mo: Was bedeutet das für die Genehmigungspraxis?
Zimmer: Genehmigungen dauern heute schon so lange, dass sie Investitionen verzögern oder gar verhindern. Und das wird noch schlimmer werden. Der neue Entwurf des STM-BREF hat rund 900 Seiten. Da stehen Anforderungen drin, die kein Betrieb erfüllen kann. Allein schon durch die schiere Menge. Aber sie stehen drin – und werden damit zur Basis von Entscheidungen. Die Behörden fordern Nachweise, fordern Gutachten, fordern Benchmarks, für die es keine Vergleichsbasis gibt. Wie soll ich als Unternehmer nachweisen, dass ich besser werde, wenn ich keine Vergleichswerte habe? Woher soll ich wissen, was 10 Prozent weniger Wasserverbrauch bedeuten – zum Beispiel in Kilowattstunden? In Geld? Denn in der Naturwissenschaft und Technologie rufen Eingriffe stets Wechselwirkungen hervor, deren Missachtung zu kontraproduktiven Entwicklungen führen kann. Spart man auf der einen Seite etwas ein, muss man sehr bedacht vorgehen, um an anderer Stelle nicht ein Mehrfaches der ursprünglichen Einsparung an Ressourcen investieren zu müssen, um den Prozess stabil zu halten. Niemand auf Behördenseite beantwortet diese Fragen.
mo: Was ist das Fazit daraus?
Zimmer: Deutschland und Europa befinden sich zunehmend auf dem Weg in eine Planwirtschaft. Wir verlieren jegliche Rationalität. Entscheidungen werden nicht mehr auf Grundlage von Daten, sondern auf Grundlage von diffusen Vorstellungen getroffen. Und das wird unseren Industriestandort sehr schwer treffen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
„Es liegt an uns – die Politik korrigiert sich nicht selbst“
mo: Hier deutet sich eine katastrophale Entwicklung an – lässt sich diese noch aufhalten?
Zimmer: Politisch kaum. Dafür sind die Prozesse zu träge, zu stark miteinander verflochten. Die Verantwortung ist so weit verteilt, dass sich niemand zuständig fühlt. Selbst wenn es massiven Widerstand gibt – es fehlt der Hebel. Außer man stellt sich juristischen Auseinandersetzungen. Das ist oft die letzte Option.
mo: Was wäre ein möglicher Ausweg?
Zimmer: Ein Moratorium. Und zwar ein hartes: Jede Regulierung muss ein konkretes Ziel definieren, mit klarer Zeitvorgabe. Und es muss evaluiert werden. Wird das postulierte Ziel nicht erreicht – muss ein anderer Weg gesucht werden. Keine Wirkung – keine Regulierung. Das gebietet eigentlich der gesunde Menschenverstand. Aber das ist politisch anscheinend nicht mehr durchsetzbar.
mo: Was bleibt dann den Unternehmen?
Zimmer: Sie müssen laut werden. Direkt. Persönlich. Unternehmer müssen Abgeordnete konfrontieren – mit Fakten, mit Beispielen. Am besten zusammen mit ihren Mitarbeitenden, mit dem Betriebsrat. Zeigen, was hier passiert, ohne das ein Benefit entsteht. Klar machen: So geht es nicht weiter. Ich sage es immer wieder: Sie sind Unternehmer – dann unternehmen Sie etwas. Der Verband wird unterstützen, wo und wie er kann.